Nicolás Gómez Dávilas Aphorismen, die er „Fußnoten zum ungeschriebenen Erbe der Menschheit“ nennt, treffen oft genau ins Schwarze. Ein Erbe, das sich nicht in Worte fassen lässt. Gómez Dávila nähert sich ihm aber in einem „konzentrischen, nicht linearen Werk“ an. Wer auf der Suche ist, findet dort Antworten. Auf der Suche nach Details zu den oft strapazierten europäischen Werten war ich einst für eine Rede im Wiener Gemeinderat. Diese sollten sich leichter in Worte fassen lassen, als gleich das ganze Erbe der Menschheit. So fand ich Golgota, das Kapitol und den Areopag, also die drei Hügel, auf denen laut Papst Benedikt Europa erbaut wurde.
Ich fand das Prinzip der Würde des Menschen und das aus ihr hervorgehende Instrumentalisierungsverbot, die Verpflichtung auf die Vernunft, die Suche nach dem Schönen, Wahren und Guten, in großer persönlicher Freiheit. Bei Jordan Peterson fand ich die überhaupt kürzeste Zusammenfassung des „westlichen Gedankens“: „you can do better“ – der edle Anspruch, über sich hinauszuwachsen. Wer die großen Fragen des Menschseins und des Zusammenlebens aus den Augen verliert, wird austauschbar. Niemand beschreibt all das tiefgreifender als der aus Kolumbien stammende Denker Gómez Dávila in seinen gut zehntausend Aphorismen. Der „Einsiedler am Rand der bewohnten Erde von der Art der großen Wüstenväter“, wie ihn Martin Mosebach nennt, wird zum Biographen des Westens. Dabei hält er fest: „Die Geschichte reinigt sich von ihren Miasmen nur in den kurzen Perioden, in denen christliche Winde wehen.“
Wie für viele andere auch, ist es gerade für den Politiker eine Herausforderung, nicht im Tagesgeschäft unterzugehen. Wer aber die großen Fragen des Menschseins und des Zusammenlebens aus den Augen verliert, wird austauschbar. Wohin geht die Reise, müssen wir uns täglich fragen. Gómez Dávila fragte sich kaum etwas anderes. Er betrachtet jede Entwicklung als Produkt der Ideengeschichte: „Die Menschen wechseln weniger die Ideen, als die Ideen ihre Masken.“ Und: „Die wirklichen Probleme haben keine Lösung, sondern Geschichte.“ Mit diesem Abstand bewahrt man sich nicht nur einen kühlen Kopf und ein ruhiges Gemüt. Dann wird politische Arbeit nachhaltig. Das Gegenteil beschreibt er so: „Der demokratische Politiker übernimmt nicht die Ideen, an die er glaubt, sondern die, von denen er glaubt, dass sie siegen.“ Und liefert gleich noch eine sehr brauchbare Definition mit: „Einen Kompromiss geht jener ein, der ein entferntes Gut einer gegenwärtigen Dringlichkeit opfert.“
Herausfordernde Fragen
In Zeiten von Pandemie und Terror, Cancel Culture und Fake News, Aufgabe des Schutzes der Menschenwürde am Lebensanfang und am Lebensende, der Auflösung von Geschlechter- und Familienstrukturen, fragt sich so mancher, wie es weitergehen soll und wohin das alles führt. „Die Menschheit sieht mit Entsetzen zu, wie der Fortschritt unheilbar wird“, schreibt Gómez Dávila. Aber dabei belässt er es nicht: „Die moderne Welt ist bereits dermaßen zersetzt, dass wir keine Angst mehr haben müssen, dass sie nicht zusammenbricht.“ Ein spöttischer Beobachter? Nein, das ist er ganz und gar nicht. Er verdeutlicht damit die Frage nach dem eigenen Engagement: Wie all diesen Entwicklungen begegnen? Wie die richtigen Wege finden, wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen? Wie die Dinge erklären, wenn Ideologien übermächtig sind?
Papst Johannes Paul II. beschreibt das 20. Jahrhundert als „Ausbruch des großen Bösen“ und zugleich als „Szenerie seiner Überwindung“: „Die Natur hat ihre Fähigkeit zum Guten behalten, das hat sich in den Ereignissen der verschiedenen geschichtlichen Epochen immer neu bestätigt… Das Böse schafft Gelegenheiten für das Gute… das Böse ist durch das Gute begrenzt.“ Darin liegt die Antwort: Durch die eigenen Handlungen das Böse begrenzen. Jeder an seinem Ort. Und ich eben im österreichischen Nationalrat. Dafür hat Gómez Dávila ein ganz besonderes Wort. Er glaubt nämlich an den Diskurs: „Nur das Wehen des Wortes bläst den Staub hinweg, der die Dinge verschleiert.“ Und noch ein kleiner Gruß an alle Pessimisten: „Eine perfekte Gesellschaft wäre der Friedhof menschlicher Größe.“
Schmeicheln liegt ihm nicht
Auch für mich als Mutter von vier Kindern hat dieser Quer- und Tiefdenker einiges auf Lager: „Den Jugendlichen erziehen heißt nicht, ihn mit seiner Epoche vertraut zu machen, sondern dafür zu sorgen, dass er sie solange wie möglich ignoriert.“ Und: „Erwachsen zu werden heißt nicht, die eigenen Wünsche aufzugeben, sondern dass die Welt nicht verpflichtet ist, sie zu erfüllen.“ Für Jung und Alt gilt: „Die Argumente, mit denen wir unser Verhalten rechtfertigen, sind normalerweise dümmer als unser Verhalten selbst.“
Gómez Dávila macht keinen Hehl daraus, dass es Voraussetzungen braucht, um sich Großem anzunähern: „Der Lärm der Moderne betäubt unsere Seelen und lässt uns stumpfsinnig werden.“ Gómez Dávila schmeichelt nicht. Kaum jemand kommt gut weg: „Die Mehrzahl der Menschen sollten wir nicht bitten, aufrichtig zu sein, sondern stumm.“ Gleichzeitig weiß er um die große Würde des Menschen: „Bei Gott gibt es nur Individuen.“ Über allem steht als Herr der Geschichte für Nicolás Gómez Dávila – genau wie für Johannes Paul II. – Gott: „Gott ist keine Erfindung, sondern ein Fund.“ Folgerichtig „entehrt uns jedes von Gott verschiedene Ziel“. Für eine Politikerin ist der Anspruch glasklar und ein Steilhang. In großen und in kleinen Dingen hat die Treue ihren Preis. Aber genau darum geht es. Wo man an Böses gerät, ist ihm Gutes entgegenzustellen, ob es einfach ist, oder nicht. Alles andere liegt in anderen Händen.
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