Wir haben die Mitte verloren
9. Februar 2021
Wir haben die Mitte verloren. Viele berichten mir von emotional aufgeheizten Gesprächen und Posts voller Gehässigkeit. Wir Politiker bekommen bitterböse E-Mails am laufenden Band: dem einen ist etwas zu wenig, den anderen zu viel. Jeder ist empört, einer kann das eine nicht glauben, der andere genau das Gegenteil nicht. Fremd-Moralisieren hat Hochkonjunktur, von dogmatischer Intoleranz ganz zu schweigen. Das Maß scheint in Wort und Inhalt verloren gegangen zu sein.
Warum ist das so? Schauen wir zu viel Netflix? Fehlen uns die Ablenkungen? Martin Buber sagt, am Du wird der Mensch zum Ich. Es gehen uns die Menschen ab, an denen wir uns reiben und weiterentwickeln können und durch die wir unser Maß finden. Lockdowns über so lange Zeit sind schwer zu ertragen. Nun ist menschliche Reife gefordert, die Mitte und die Balance zu halten.
In der Neujahrsansprache sagte Bundespräsident Alexander van der Bellen: „Wie wäre es, den Trend zu beenden, andere Meinungen erbittert zu bekämpfen? Wie wäre es, wenn wir Frieden schließen würden mit der Erkenntnis, dass wir nur durch Gegensätze wachsen und lernen können? Und dass unsere Gesellschaft durch gegenseitigen Respekt nur stärker wird?“
Ich hoffe, dass wir zu einem öffentlichen Dialog finden ohne Empörismus, ohne Hass und ohne Böswilligkeit oder Unterstellungen. Zu einer Politik, in der wir anstatt Schlagseiten am anderen gemeinsam den besten Weg suchen.
Sahra Wagenknecht (von der deutschen Partei “Die Linke”) sagte in einem Interview mit „Die Welt“ am 1. Feb. 2021:
„Es gibt eine zunehmende Intoleranz. Das Grundproblem ist die Haltung: Wer nicht für mich ist, ist kein Andersdenkender sondern ein schlechter Mensch. Das ist ein typisches Herangehen des linksliberalen Milieus: Wer für eine Begrenzung von Zuwanderung ist, ist ein Rassist. Wer CO2-Steuern kritisiert, ein Klimaleugner (…). Man muss aufhören, Debatten zu moralisieren oder bewusst darauf auszurichten, Leute niederzumachen. Alle (…) sollten die Fähigkeit zurückgewinnen, mit Anstand und Respekt zu diskutieren.“
Danke für die weisen, mutigen, klugen, ermutigenden Worte – auch die von anderen zusammengetragenen und vorgestellten – in Ihrem Parlamentsnewsletter vom Februar 2021. Von Ihnen kenne ich das ja. Dass Sahra Wagenknecht so vermittelnd spricht, ist hingegen eine Überraschung. Und auch das klare Statement der Grazer Bürgermeister ist eine Wohltat. Da färbt die Menschenrechtsstadt auf ihre Vertreter ab. Danke, dass Sie alles dransetzen werden, um die Würde des Menschen am Lebensende und die Gewissensfreiheit der Ärzte weiterhin auf rechtlicher Ebene zu wahren und zu schützen!