“Als würde man den Herbst abschaffen” – Tobias Moretti über den Sinn des Welken
2. September 2020
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In seinem Redebeitrag auf der Internationalen Hartheim Konferenz “Sinn und Schuldigkeit“ kommt Tobias Moretti auf einige ganz große, zentrale Fragen des Lebens und unserer Gesellschaft zu sprechen und zieht eine unbequeme, aber umso wichtigere Bilanz über unser Verständnis von Ethik. Warum Glück nicht gleich Nutzen ist, weshalb unsere Gesellschaft Platz für das Nicht-Normale, das Welke und das Sterben braucht und wieso wir den Herbst nicht abschaffen dürfen – dazu hier mit großer Empfehlung die Niederschrift von Morettis Vortrag:

Tobias Moretti: Statement auf der „Internationalen Hartheim Konferenz „Sinn und Schuldigkeit“

Meine Damen und Herren, es ist ein so komplexes und vielseitiges Thema, das hat man auch jetzt schon bei den Diskussionen gemerkt … (Bitte um Licht)

Es gibt so viele verschiedene Ansätze, die so interessant sind und die so viele Perspektiven zum Ausdruck bringen und ganz merkwürdige Schnittmengen… und eine hat mich ganz besonders jetzt beeindruckt, als jemand gesagt hat, ihr geht immer davon aus, von den familiären Strukturen, die hier stattfinden, aber man muss ja eigentlich von einer ganz anderen Gesellschaftssituation ausgehen, denn wir leben in einer postmodernen Gesellschaftssituation und die Familie gibt es ja nicht mehr. Das hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Ich kann nicht immer von meiner Situation ausgehen und von meinem Kulturkreis.

Als mich Georg Starhemberg angesprochen hat und mir von diesem Symposium erzählt hat und mich eingeladen hat mir darüber ein paar Gedanken zu machen, da war ich nicht zuletzt deshalb so interessiert, so aufgebracht, von dieser Idee, weil es mich an meine Arbeit für Speer und Ehr erinnert hat, und auch weil es sich eben nicht um einer dieser ausschließlich retrospektiven Tagungen handelt, sondern um eine Veranstaltung, die, weil sie hier stattfindet, zwangsläufig das Gestern und Heute auf eine makabre Art verbindet, wie ich finde. Mir war Hartheim bekannt für das, was hier getan wurde. 30 000 Menschen wurden hier vergast. Ich hab es als ein historisches Synonym für ein Grauenskapitel gespeichert gehabt, wie jeder von uns, schubladisiert. Aber im Zuge meiner Arbeit für Speer und Ehr ist mir im Zuge in einem Haufen von vielen Dokumenten eine kleine Privatnotiz vom Reichsärzteführer Wagner untergekommen, in der er dem Führer minutiös aufgerechnet hat, so nebenbei, also wertneutral würde man heute sagen, wie eine Statistik auch heute ist, wie viel ein Behinderter dem Staate kosten, wie viel sich da bei steigender Lebenserwartung summiert, und daraus hat er eine soziale Kosten-Nutzen-Rechnung erstellt, und die ging bis ins Jahre 1998. Das hat mich schockiert. Plötzlich wurde mir gewahr, die nüchterne klare Modernität, dieser pragmatisch, akademische Umgang, das hätte eine Rechnung von heute sein können. Und plötzlich war Hartheim das Synonym für das Hier und Jetzt, für das Zeitlose, der Empfänglichkeit unserer Gesellschaft, unserer Bildungsbürgergesellschaft und auch deren Verrohung – und wie schnell das geht.

Da möchte ich noch einmal kurz an die Thematik des vorigen Symposiums über den Beginn des Lebens anknüpfen, weil im Zuge des Herumlesens mir ein Statement eines Arztes unter die Augen ist, das vielleicht hier auch schon erwähnt worden ist, nämlich Peter Malmann, dem Direktor der Frauenklinik Köln, der im Zuge einer Veranstaltung der Aktion Lebensrecht für Alle formuliert hat: Der Arbeitsauftrag an uns Ärzte lautet, die Eltern vor der Last des behinderten Kindes zu bewahren. Die Ärzte haben also ein Problem, ein rechtliches Problem: Eltern lassen ein Kind abtreiben, in einem relative späten Stadium, wenn es schon lebensfähig ist. Es passiert, dass das Kind wird weggelegt und irgendwann merkt man, dass das Kind lebt. Und wenn Sie das Kind jetzt töten dann ist es eine Tötung, und sie machen sich strafbar, weil außerhalb des Mutterleibs darf man das nicht, wenn sie das Kind aber leben lassen, dann kommen die Eltern und können – und das werden sie in einigen Fällen auch tun – Unterhalt einfordern, weil die Operation nicht fachgerecht durchgeführt wurde. Der Arzt kommt sozusagen zu ungewollten Vaterschaftsfreuden.

Und das war ja nun eigentlich das Thema der letzten Veranstaltung, aber es zeigt für mich in welche absurden Dimensionen wir mittlerweile hineingekommen sind, bzw. schon längst sind.

Die Abtreibung behinderter Kinder hält Malmann für gesundheitsökonomisch notwendig zur Kostenreduktion in unserem Gesundheitswesen. Gesundheitsökonomie ist der Begriff. Der Begriff zeigt, wir kommen wieder in diese Euphemismen hinein, das heißt wir verstecken eine grausame Sache hinter einem schönen Begriff. Ein ebenso schöner Begriff ist Euthanasie, der schöne Tod, oder auch Eugenik, die schönen Gene. Eine Begrifflichkeit, die in Zeiten wie unseren, Zeiten der Gentechnologie, nicht so weit weg scheint. Denn wenn es gesunde Gene geht, oder nützliche, wertvolle Gene oder schöne Gene, die die schönen Nasen machen.

Dann gibt es auch die hässlichen und nutzlosen und vor allem die ungesunden Gene, die keiner haben will.

Und die daraus folgende Sichtbarmachung des genetischen Fingerabdrucks wird wie ein Stigma, das an einem haftet, ohne den Sie in ein paar Jahren vielleicht nicht einmal mehr eine Bewerbung abschicken können.

Man kann aber nicht alles auf die Wissenschaftler und die Ärzte schieben. Es muss schon auch eine gesellschaftliche Akzeptanz geben, eine Akzeptanz, die diese schön verpackten Auswüchse aufnimmt und vor allem exekutiert. Ja wie passiert denn so was in einer sogenannten aufgeklärten Gesellschaft, in einer Mediengesellschaft, dass diese schleichende Verrohung zum allgemeinen Gedankengut wird? Wie entsteht so etwas wie ein Klima, das man plötzlich den Gedanken an so was wie Euthanasie zulässt – oder sich nicht einmal daran stößt mehr? Wie wird das gesellschaftsfähig? Ja, sagt man, ja, die Oma kann sich nicht mehr rühren, und so… Also heute im Gegensatz zu Hartheim vor 60 Jahren, als das ganze  ein ideologisches System gehabt hat, kommt einem diese Veränderung ja vielleicht viel verschwommener vor, wie eine verschwommene Gedankenlosigkeit. Denn es gibt ja bei uns heute keinen Fanatismus mehr, keinen para- oder pseudo-religiösen Rassenwahn. Aber im Gespräch hat Georg Starhemberg erwähnt, die Holländer wollen naturgemäß in keinen Zusammenhang gebracht werden mit der Geschichte der Euthanasie, das ist nachvollziehbar. Aber man kann die Nazizeit völlig ausklammern, aber das Ganze hat ja weit vorher schon begonnen, schon im 19. Jahrhundert begonnen, mit Darwin, mit Mendel, und da war es eigentlich nichts anderes als die wissenschaftliche Sensation, die die Leute begeistert hat, zu sagen, welche großen wissenschaftlichen Erfolge die Embryonenforschung hat zum Heil der Menschheit.

Und das ging dann über in eine philosophische Idee vom Übermenschen. Die Literatur der letzten Jahrhundertwende ist voll davon, voll von diesen Vererbungs- und Veranlagungsideen.

Ibsen, der Dramatiker, der Sozialliterat, war voll davon. Max Reinhardt, der Jude in Berlin, hat es rauf und runter gespielt, fanatisch, er war begeistert davon, er, ein Sozialträumer.

Die Juden sind nicht im Traum auf die Idee gekommen, dass sich das Ganze einmal gegen sie richten würde, schließlich waren ja sie die intellektuelle Elite damals.

Und dann erst hat es Eingang gefunden in eine politische Ideologie, und zwar zu einem Zeitpunkt, als der gesellschaftliche Nährboden dafür da war. Das ist klar. Ich zitiere jetzt Professor Hocher – Sie haben sicher im Laufe dieser Tagung schon mehrfach von ihm gehört, der Anfang der 20-er Jahre schreibt: „Es ergibt sich, dass der durchschnittliche Aufwand pro Kopf und Jahr für die Pflege der Idioten bisher 1300 Mark betrug. Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen gerechtfertigt sei, war ja in den verflossenen Zeiten des Wohlstandes nicht dringend. Jetzt aber ist es anders geworden und wir müssen und ernstlich damit beschäftigen. Das moderne Streben möglichst auch die Schwächlinge aller Sorten zu erhalten, muss man sich ja erst einmal leisten können“, hat er gesagt.

Dieses Argument ist ja abgesehen von gewissen Termini uns ja nicht ganz fremd. Das Begriffspendant für das, was früher Sozialhygiene hieß, ist heute, überspitzt formuliert, Gesundheitsökonomie. Denn den Wohlstandsstaat gibt es nicht mehr auf der Welt und die Aufnahmebereitschaft für solche Argumente steigt sicher. Die Angst ist da. Die moralische Indifferenz ist da, und die Bequemlichkeit. Das ist ein Nährboden.

Man kann ruhig sagen: Solange die Menschen von einem christlichen Humanismus getragen werden, sollte man über das Lebensrecht eines Menschen nicht diskutieren müssen, weder eines Alten, noch eines Behinderten. Es gibt keinen Rechtfertigungs- also keinen Erklärungszwang. Aber mittlerweile gibt es ihn eben doch.

Was Professor Hocher da in den 20-er Jahren natur- und sozial-wissenschaftlich erörtert hat, mündet dann in solche merkwürdige Zeichnungen, ich habe da diese Bilder, ich kann sie Ihnen in der Diskussion dann zeigen, über die Auswirkungen der Pflege von Erbkranken. Die wohnen da in einem so schönen Schloss, da könnte man wunderbar für die Zukunftsgeneration schöne Siedlungen bauen. Und man kalkuliert mit dem sozialen Neid, und da gibt es auch eine Parallele zu heute.

Heute hat man allerdings das Gefühl, dass eine philosophische Ethik nachgeliefert wird für einen Prozess, der schon voll im Gange ist. Wer das Lebensrecht an einem Punkt in Frage stellt, nämlich am Anfang, der stellt es irgendwann auch am Ende in Frage, zum Beispiel am Ende.

Was jemand wie Peter Singer macht, ist Kriterien für Lebensrecht aufzustellen, philosophisch, ethische Kriterien. Sie werden sicher schon von Professor Singer viel gesprochen haben. Singer, Professor für Biotehik an der Universität Princeton, kategorisiert: Menschen, Lebewesen. Er unterteilt sie nach nicht-bewussten Wesen (Das sind zum Beispiel Fische), nach bewussten Menschen, das sind Tiere oder ach Menschenembryonen ab der 18. Woche, und  selbst-bewusste Wesen, wie wir es sind, aber erst ab ca. einem ¾ Jahr des Lebens, sofern wir unseren Verstand gebrauchen können. Nur diesen gesteht er zu, selbst über sich zu bestimmen, nur diesen gesteht er Personencharakter zu und nur diesen gesteht er Lebensrecht zu.

Er geht von dem klassischen, utilitaristischen Prinzip aus, ist klar, der Lebenszweck sei Vermehrung von Glück und Verminderung von Leid. Das hatte damals auch eine andere Bedeutung.

Wenn er aber meint, das Glück der Eltern, der Sozietät, vermehrt man, wenn man ihnen die Fürsorge für einen alten Menschen oder für einen behinderten Menschen abnimmt, dann ist klar, dass hier Glück wie in einer Gleichung gleich Nutzen ist. Wer nicht unmittelbar von Nutzen ist, vermindert das Glück von uns oder von der Gesellschaft. 

Wie weit muss man verbildet sein, um einen solchen Gedanken zu fassen? Ich versteh so was nicht – da muss irgendwas verloren gegangen sein.

Die Ethik ist ja eigentlich der akademische Begriff für Moral, für den Haus- und Herzensverstand.

Ich war heute bei einem Begräbnis, da ist eine junge Mutter gestorben und sie hatte Kinder, auch ein behindertes Kind, und da habe ich beobachtet, in diese leeren Augen hinein geschaut, und ich wusste nicht, ist es nun traurig? Kann man es überhaupt einstufen? Wer weiß es denn, wer kann es denn sagen?

Wie soll man einer Konsumgesellschaft wie unserer flüchtigen Postmodernen, wo nur der zählt, der nützt, der konsumiert, das erklären? Der Unnütze kostet, der kostet Geld, der kostet Fürsorge, der kostet Kraft.

Es ist die Norm, die mir Sorge macht, die man aufnimmt. Man ist gesund, jung, fit, schön. Wie soll man heute der Zukunftsgeneration, die selber um ihre Existenzberechtigung kämpft, weil sie nur kostet, erklären, dass es eine Gesellschaft reicher macht, Platz zu haben für das Nicht-Normale, auch für das Welke, das Sterben, das gehört einfach dazu.

Es ist ja, als würde man eine Jahreszeit wegkürzen, als würde man den Herbst abschaffen. Natürlich ist das ein unlauterer Vergleich, das weiß ich auch, denn in der Regel ist das ein Lebensende im Altersheim, wo es nach Urin und süßlichem derben Moder riecht, zutiefst deprimierend. Dasselbe gilt für den Alltag von Schwer- und Schwerstbehinderten.

Aber wenn dieser der Menschlichkeit enthobene Pragmatismus zum Leitmotiv, zum Cantus Firmus der politischen Kompetenz wird, dann wird es so sein, dass man sich rechtfertigen muss, wenn man ein behindertes Kind zur Welt bringt, oder einen debilen alten Menschen pflegt. Das ist dann plötzlich Privatvergnügen – oder Hobby.

In Salzburg im Winter vor ein paar Jahren hab ich auf der Staatsbrücke mitten unter all den Pelzmänteln einen Lapperten gesehen, einen Idioten. Und der ging da so mit wehenden Armen und war ganz fasziniert von all den Menschen mit den Pelzmänteln. Und in dem Moment war der für mich der schönste Mensch auf der Brücke. Und das war aber so.

Und wir sind doch eine Kulturnation und stolz darauf, und alles was unsere Kultur ausmacht und abhebt von dem Glatten und Hygienischen ist halt nicht die Norm.

Es gibt keine Normkunst zum Beispiel. Es gibt keine hygienische Kunst, das gibt es nicht. Es gibt keinen einzigen dramatischen Vorgang, der symmetrisch ist. Niemand würde sich ein Theaterstück anschauen, in dem sich schöne Menschen, die schöne Dinge tragen, sich schön anschauen und schöne Dinge sagen. Wir würden keinen Sinn darin sehen, uns das anzuschauen. Und da sind wir bei dem Begriff, um den man nicht herumkommt, nämlich den Sinn. Wer entscheidet darüber, ob etwas Sinn hat?

Kann man da Kriterien dafür überhaupt aufstellen? Die Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach der Erfüllung des Lebens werden wir sowieso nicht los. Und wenn man sich fragt, was Lebenskultur zu der Frage beitragen kann, dann vielleicht, sie offen zu lassen und zu hoffen, dass sie offen bleibt und jedenfalls nicht im Stil einer Kosten-Nutzenberechnung beantwortet wird.

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