Leitkultur!? Die zwölf Eigenschaften Europas
2. April 2024
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So manche Diskussion ermüdet mit hohlen Parolen und Orientierungslosigkeit. Fehlende gemeinsame Werte machen Europa schwach, unattraktiv – und Migranten integrationsunwillig. Selbst die Pluralität, zu der wir uns bekennen, braucht eine gemeinsame Wertebasis, denn ohne sie sind Verhaltensnormen kasuistisch und der Staat wird allmächtig. Jede Kultur ist eine Anerkennungsordnung, die sich im Rechtssystem artikuliert.

Das jüdisch-christliche Erbe, das römische Recht und die griechische Philosophie sowie die Aufklärung und der Prozess der Anerkennung der Menschenrechte ziehen sich durch das europäische Denken wie ein roter Faden. Der dt. Bundespräsident Theodor Heuss sagte 1950: „Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgotha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“

Diese drei Hügel bilden die Grundpfeiler der gemeinsamen Wertebasis Europas, sozusagen die Eigenschaften Europas. Was das konkret heißt, habe ich in zwölf Punkten ausgearbeitet:

  1. Würde des Menschen: Der Mensch ist einzigartig, mit freiem Willen und Vernunft begabt, fähig für soziales Miteinander, zur Kommunikation und Interaktion. Deshalb hat er unverletzliche Rechte. Deshalb kümmern wir uns um Sterbende, Behinderte, Bedürftige, komatöse Patienten, u.s.w. Wir stehen für Solidarität, auch wenn es mehr kostet als es wirtschaftlich bringt. Deshalb lehnen wir Strafen gegen Leib und Leben ab.
  2. Aufgrund der Menschenwürde gilt das sogenannte Instrumentalisierungsverbot: Der Mensch ist immer Selbstzweck. Seine Würde wird nicht über seine Nützlichkeit z.B. am Arbeitsmarkt definiert, der Mensch darf nicht als Bauernopfer eingesetzt oder als Schutzschild missbraucht werden. Sklaverei, sexueller Missbrauch, Leihmutterschaft, Menschen- oder Organhandel instrumentalisieren den Menschen. Dem steht nicht die Pflicht des Menschen entgegen, Verantwortung zu übernehmen, sich einzubringen und die Welt aktiv mitzugestalten.
  3. Die Suche nach dem Schönen, Wahren und Guten: Die Freiheit der Wissenschaft und die Auseinandersetzung mit den großen Fragen der Menschheit auf der Suche nach dem Wahren; die Kunst als Suche nach dem Schönen; und die individuelle Vervollkommnung mit einem Blick aufs Ganze, nicht nur für einen selbst, als Suche nach dem Guten. Das hat Europa über die letzten 1000 Jahren hinaus bestimmt. Der Staat schafft durch Sicherheit, Bildung und Infrastruktur dafür einen Rahmen.
  4. Nach dem jüdisch-christlichen Menschenbild ist jeder Mensch mit einzigartigen Potenzialen und Talenten ausgestattet. Diese gilt es im Laufe seines Lebens herauszufinden und sie zur Erneuerung der Gesellschaft und Welt einzusetzen. Der hohe Anspruch an sich selbst, sich stetig zu verbessern, geht Hand in Hand mit der Überzeugung, dass jeder einzelne dazu gerufen ist, einen Beitrag zu leisten, der ohne ihn fehlen würde. So definiert Jordan Peterson den „Westen“ durch die Maxime: „You can do better. If you don’t do it, it will be missing.“ Anstatt “Doom-” und Weltuntergangsstimmung sind wir deshalb von der Innovationskraft des Menschen, durch die in der Geschichte bereits viele große Herausforderungen gemeistert wurden, überzeugt und blicken voll Zuversicht in die Zukunft.
  5. Freiheit und Selbstbestimmung sind die Basis einer pluralen Gesellschaft. Wer aus der Freiheit kommt, gesteht auch dem anderen Freiheit zu. Wo Totalitarismus regiert, herrscht Angst. Freiheit ist die Voraussetzung für ein Miteinander von „in gleicher Weise Freien“, also von Gleichberechtigten, nicht z.B. von Sippen- oder Gruppenangehörigen oder Wohlhabenden. Rousseau meinte, man müsse zur Not den Bürger zur Freiheit zwingen!
  6. Gleichberechtigung: Dem jüdisch-christlichen Menschenbild entspringt der Gedanke, dass wenn wir alle Kinder Gottes sind, dann sind wir Geschwister. Damit gibt es keinen Platz für Ungleichbehandlung oder Rassismus. Dem steht die Akzeptanz von Autorität und Hierarchien nicht entgegen. Gleichberechtigung gilt auch für die Geschlechter sowie in der Familie: Wir lehnen Gewalt in der Familie ab, stehen für Einehe und für Treue, sowie für ein klares Nein zu Kinderheirat, Zwangsverheiratung, Verwandtenehen, Genitalverstümmelung, u.s.w.
  7. Verpflichtung auf die Vernunft: Wir tappen nicht um Dunkeln, weil wir wissenschaftsorientiert nachdenken und handeln, und weil wir analysieren, verstehen, beschreiben, diskutieren und in Beziehung treten können. Das griechische Wort Logos heißt neben Vernunft, Sprache, Kommunikation, auch „Verhältnis“. So suchen wir Lösungen für jeweils aktuelle Probleme. Martin Luther King jr. sagte „The arc of the moral universe is long, but it bends toward justice.” Das 20. Jahrhundert wird zurecht als Jahrhundert bezeichnet, in dem das große Böse ausgebrochen ist. Aber viel zu selten hört man, dass es auch das Jahrhundert ist, in dem das große Böse überwunden wurde!
  8. Wir bekennen uns zur Demokratie, die eine demokratische Kultur benötigt: Zurückhaltung und Selbstbeschränkung im politischen Prozess, d.h. die Sieger üben ihre Macht nicht ungezügelt und rücksichtslos aus, die Unterlegenen anerkennen, dass sie verloren haben, und respektieren die staatliche Autorität.
  9. Anerkennung des Rechtssystems auf Basis der Rechtsstaatlichkeit sowie des Gewalt- und Justizmonopols des Staates (keine Gewaltanwendung, keine Selbstjustiz, keine privaten Fehden)
  10. Gemeinsame Verantwortung zur Schaffung einer gerechteren Gesellschaft: Neben Rechten anerkennen wir auch Pflichten. Wir bekennen uns zu Leistung, zur Weiterbildung, zur Selbstverwirklichung durch Arbeit und zum Fair Use z.B. in der Inanspruchnahme von Sozialleistungen.
  11. Toleranz und Religionsfreiheit: Wir bekennen uns zur Trennung von Kirche und Staat. Wir lehnen Gesinnungsterror ab. Gleichzeitig schätzen wir den Beitrag, den Religionen leisten, und lassen ihre Rolle in Gesellschaft und Staat zu. Wir tolerieren und achten Andersdenkende und unterschiedliche Zugänge – ja, wir finden die Auseinandersetzung mit Neuem gut. Und selbst wenn wir uns inhaltlich nicht finden, sagen wir mit Voltaire: „Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen.“
  12. Treuhänderischer Umgang mit der Umwelt: Aus dem jüdisch-christlichen Menschenbild leitet sich der Gedanke der Nachhaltigkeit ab. Der “gute Verwalter” hat seinen Lebensraum von der nächsten Generation nur geborgt, achtet auf ihn und sorgt dafür, ihn in bestmöglichem Zustand zu übergeben.

(Dr. Gudrun Kugler, im April 2024)

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2 comments

  1. Ich begrüsse diesen innovativen und konstruktiven Ansatz und Beitrag einer parlamentarischen österreichischen besser gesagt europäischen Abgeordneten zur laufenden Diskussion.
    Ich wünsche mir, dass dadurch unter den Abgeordneten ein überparteilicher Gedankenaustausch forciert wird.
    Gerne trage ich dazu bei.

  2. Sehr interessant! Man müsste jedoch mit Migrant_innen aus außereuropäischen Ländern, die ihr Menschenrecht auf Asyl in Anspruch nehmen wollen, auch über Menschenpflichten in Europa sprechen, wie sie etwa Karl Stickler in “Acht Menschenpflichten ..” zusammengefasst hat.